Gerlinde Manz-Christ über heilsames Waldbaden

Die Naturdiplomatin, Bergwanderführerin und Kommunikations-Coach aus Vorarlberg/AT befasst sich bereits seit vielen Jahren mit der japanischen Therapie des Waldbadens – dem „Shinrin Yoku“.

Dabei nimmt man nicht buchstäblich ein Bad im Wald, sondern genießt die Atmosphäre des Waldes und nimmt die Natur intensiv mit allen Sinnen wahr. Warum es beim Waldbaden kein konkretes Ziel gibt, wie das Atmen dazu beiträgt den Wald wahrzunehmen und wie ein Gedicht dabei hilft, die Natur in den Alltag zu integrieren erzählt Dr. Gerlinde Manz-Christ im Gespräch mit Stefanie Bauer.

Liebe Gerlinde, warum bieten Sie Waldbaden an?

Aufgewachsen in Linz an der Donau und bei meinen Großeltern im Montafon, habe ich schon früh das bäuerliche Leben im Einklang mit der Natur schätzen und lieben gelernt. Diese enge Beziehung zur Natur hat mir stets geholfen, so manche unüberwindlich scheinende Herausforderung des Alltags zu meistern. Das möchte ich auch meinen Gästen vermitteln.

Wenn ich Menschen, die sich gerade in einer schwierigen Situation befinden, dabei unterstützen kann sich zu öffnen, ihr Denken in Bewegung zu bringen und sich aus dem Hamsterrad ihres stressigen Alltags zu befreien, habe ich das mir selbst gesteckte Ziel erreicht.

Dabei lege ich besonderen Wert auf die ganzheitliche Betrachtung des Menschen. Denn der Mensch ist eine Geist-Seele-Körper-Einheit. Jeder Vorgang im seelischen Bereich hat eine körperliche Entsprechung. Hier spielt das vegetative Nervensystem als Vermittler zwischen der Außenwelt und dem Inneren eine wichtige Rolle. Das machen wir uns beim Waldbaden zunutze. Alle, durch die fünf Sinne aufgenommenen, angenehmen Reize des Waldes wirken sich positiv und beruhigend auf das vegetative System und in weiterer Folge auf die Organfunktionen aus. So haben wissenschaftliche Studien weltweit gezeigt, dass Waldbaden von großem Nutzen speziell für das Herz-Kreislauf- sowie das Immunsystem ist und um Kognition und Stimmung zu stabilisieren und zu verbessern. In japanischen Kliniken wird Waldtherapie seit langem als ergänzende Therapieform zur westlichen Schulmedizin eingesetzt. Seit 2012 ist Waldmedizin ein eigener medizinischer Forschungszweig an japanischen Universitäten.

Wie läuft das ab, wenn Gäste zu Ihnen ins Montafon kommen und Waldbaden möchten?

Meine Devise beim Waldbaden ist „Ankommen und Aufatmen“. In einem ersten Schritt zeige ich meinen Gästen wie sie richtig atmen, um zu entspannen und im Hier und Jetzt anzukommen. Der Atem gilt als zentrales Element zur Entspannung und Konzentration. Langsames und regelmäßiges Bauchatmen, im Vergleich zur üblichen hektischeren Brustatmung, entspannt Körper und Geist.

In einem zweiten Schritt zeige und erzähle ich meinen Gästen Interessantes und Kurioses zum Ökosystem Wald, zu Besonderheiten der dort lebenden Tiere und zur Heilwirkung seiner Pflanzen.

Mit gezielten Wahrnehmungsübungen aus der Natur- und Waldpädagogik schaffen wir wieder eine Verbindung zwischen Mensch und Wald. Je nach Zielgruppe sehen die Übungen anders aus. Diese können von Yoga inspirierten Einheiten über Meditation bis hin zu Spielen mit Kindern reichen. Dabei kann sich der Gast wieder erden, mit der Natur und letztlich wieder mit sich selbst verbinden.

Wenn ich auf meiner Bergtour auf dem Weg zum Gipfel durch einen Wald wandere, mache ich dann auch Waldbaden?

Das ist kein Waldbaden im klassischen Sinn, da Sie sich aktiv mit der Bewegung und dem Erreichen des Gipfels beschäftigen, nicht aber mit der bewussten Wahrnehmung der Natur. Gleichwohl werden Sie die wohltuende Wirkung des Waldes erleben. Sie wandern mit einer Geschwindigkeit von ca. 5 km/h. Beim Waldbaden bewegen Sie sich 10mal langsamer fort, sie schlendern eher und lassen sich treiben. Beim Wandern haben Sie zudem ein konkretes Ziel, nämlich das Erreichen des Berggipfels. Solch ein Ziel haben Sie beim Waldbaden nicht!

Was ist denn das Ziel beim Waldbaden?

Beim Waldbaden gibt es kein konkretes Ziel. Der Fokus liegt darauf, mit allen Sinnen den Wald wahrzunehmen, ihn zu riechen, hören, sehen, schmecken und fühlen – bewusst. Das übergeordnete »Ziel«, wenn Sie so wollen, ist die Gesundheit zu stärken oder Heilung zu beschleunigen.

Die Waldmedizin, wie das Waldbaden im englisch-sprachigen Raum auch genannt wird, lässt sich hervorragend zum Stressabbau, zur Stärkung des Immunsystems, für mehr Klarheit, Kreativität und Innovationskraft, sowie für mehr Stärke und Gelassenheit im Alltag einsetzen.

Beim Waldbaden kann der Gast seine Anspannung loslassen und sich auf die Verbindung mit dem Wald einlassen. Denn er befindet sich in seiner natürlichen Umgebung, in der Natur.

Warum haben sich die Menschen Ihrer Meinung nach von der Natur entfernt?

Das liegt am heutigen Lebensstil. Die Menschen arbeiten vorwiegend in geschlossenen Räumen, sehr oft vor einem Computer. Darüber hinaus verbringen sie auch oft ihre Freizeit digital, in Social Media Kanälen oder mit Computerspielen. Dies zeigt sich auch wenn die Gäste ihre Aktivitäten im Montafon mit Fotos und Videos festhalten, anstatt die Umgebung auf sich wirken zu lassen und die schönen Bilder und angenehmen Empfindungen im Gedächtnis zu verankern.

Zudem verlernen Kinder bereits in der Schule, ihre Intuition bewusst einzusetzen. Kreative Fächer und Sportfächer werden zunehmend zugunsten von MINT-Fächern gekürzt. Letztere sind zweifellos wichtig, doch braucht es den gesunden Ausgleich.

So verlernt der Mensch, sich auf sein Gefühl zu verlassen – wie es ihm wirklich geht, was er braucht, damit es ihm gut geht. Diffuses Unwohlfühlen, Depression, Erschöpfung bis hin zum Burnout sind oft die Folge. Laut WHO wird Depression 2050 die häufigste Krankheit sein, noch vor Krebs und Herzinfarkt.

Sie haben viel über Waldbaden und seine heilsamen Wirkungen erzählt. Was sind Ihre Tipps für ein naturverbundenes Leben, aus dem wir Kraft tanken können?

  • Gehen Sie möglichst jeden Tag hinaus in die Natur. Auch wenn es nur für eine halbe Stunde ist. Das ist auch in der Stadt möglich, in den Stadtgärten und Alleen. Fahren Sie am besten mit dem Rad zur Arbeit oder gehen Sie zu Fuß.
  • Reduzieren Sie Ihren Medienkonsum. Die meist negativen Nachrichten wirken sich negativ auf unsere Psyche und in weiterer Folge auf unseren Körper aus (siehe oben). Haben Sie keine Angst etwas Wichtiges zu verpassen – was Sie wissen müssen erfahren Sie schon. Das gilt auch für Action- oder Horrorfilme. Ihnen sollte bewusst sein, dass diese Filme Sie traurig, ängstlich und müde machen, auch wenn Sie das nicht bewusst so wahrnehmen.
  • Essen Sie möglichst natürliche Lebensmittel. Diese enthalten alle Vitalstoffe, die wichtig für den Körper sind. Verzichten Sie auf industriell hergestellte Nahrungsmittel, insbesondere Industriezucker und Auszugsmehle.
  • Schlafen Sie genügend und gut. Vermeiden Sie dabei Elektrosmog, indem Sie Handy, Laptop und Fernseher aus ihrem Schlafzimmer verbannen.

„Die Seele wird vom Pflastertreten krumm. Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden und tauscht bei ihnen seine Seele um. Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm. Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden.“ – Erich Kästner

Am Ende Ihrer Präsentation beim Workshop »Wald für Gesundheit« am 20.05.21 im Rahmen unseres Projektes HEALPS2 haben Sie das Gedicht von Erich Kästner zitiert. Wie setzen Sie dieses Gedicht in Bezug zum Waldbaden?

Ich gebe dieses Gedicht meinen Gästen am Ende des Waldbadens mit, als Gedankenstütze und als Brücke zu ihrem Alltagsleben. Wenn die Gäste wieder in ihrem Alltag, im Büro sind, soll sie dieses Gedicht an das Waldbaden im Montafon erinnern. Das Gedicht soll sie auch anregen Naturverbindung im Alltag zu suchen.

Dies kann zum Beispiel auf dem Weg in die Arbeit das bewusste Ausschau halten nach einzelnen Blumen, Bäumen oder Tieren sein: man sieht ein Gänseblümchen zwischen den Asphaltritzen blühen, hört die Vögel zwitschern oder riecht die Rosen im Stadtpark. Es genügen so kleine Dinge, die wir wieder bewusst in den Alltag einbauen, die uns Freude bereiten und uns ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

Ich bedanke mich herzlich für dieses inspirierende Gespräch über das Waldbaden.

Lesetipp: Das neue Buch von Gerlinde Manz-Christ „Ankommen. Aufatmen. Sich selbst wiederfinden durch Naturverbundenheit“: https://www.manz-christ.com/buecher/ oder bei Ihrem Buchhändler.

HEALPS2 dauert von Oktober 2019 bis Juni 2022 und wird kofinanziert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) im Rahmen des Interreg Alpenraumprogramm (Gesamtförderung: 2.169.952,65 € - Förderung EFRE: 1.844.459,74 €).